Stéphane Hessel ist kürzlich im Alter von 94 Jahren gestorben. Aus diesem Anlass gingen die Nachrufe auf den 1917 in Berlin geborenen, 1924 nach Paris übersiedelten und seit 1937 französischen Staatsbürger, Schriftsteller und Diplomaten auf seine letzte Schrift ein, die in Deutschland unter dem Namen „Empört Euch“ bekannt wurde und nicht nur von Frankreichs Jugend begeistert aufgenommen wurde. Das keine 30 Seiten umfassende Essay und politische Vermächtnis Hessels sah ich beim Erwerb anderer Bücher für unsere Bücherei bei Roses in Nordhausen zufällig liegen und legte es auf den Stapel mit obenauf. Auf der Rückfahrt im Zug nach Walkenried begann ich darin zu blättern – und legte das Büchlein erst wieder aus der Hand, nachdem ich es bis zur letzten Seite durchgelesen hatte.
Um besorgten Rückfragen vorzubeugen: Dazwischen lag noch das Aussteigen in Walkenried.
Hessels Vergangenheit spielt auch im Südharz
Dem Nachwort der französischen Verlegerin Sylvie Crossman kann man entnehmen, dass sich ein kleiner, aber hochdramatischer Teil von Hessels langem Leben im Südharz abgespielt hat. Sie werden es ahnen: Im Lager Rottleberode und im Lager Dora. Dorthin gelangte Hessel, weil es ihm in Buchenwald mit Hilfe von Eugen Kogon gelungen war, die Identität eines anderen, inzwischen verstorbenen Häftlings anzunehmen. Er selbst war da bereits zum Tode verurteilt, da er im französischen Widerstand mitgewirkt hatte. Wie schade, dass wir diesen Mann nicht wie andere auch an diesen Stätten unserer Vergangenheit haben erleben können, dachte ich beim Lesen dieser Zeilen.
Empören ist wichtig – egal wie alt man ist
Inhaltlich richtet sich Hessels Schrift vor allem an die französische Jugend, die er auffordert, die politischen Zustände, die von den Idealen derjenigen, welche nach 1945 ein neues Frankreich errichteten (zu denen Hessel gehörte), inzwischen sehr weit entfernt sind, nicht tatenlos hinzunehmen, sondern sich eben zu empören. Nicht im Sinne von Gewalt, sondern im Sinne von sich einbringen und Zustände verändern wollen. Gewalt ist Hessel aufgrund seiner Lebenserfahrung fremd, aber tatenlos zusehen, wie seine politischen Ideale eines nach dem anderen zunichtewerden, wollte er mit 93 Jahren auch nicht.

Stéphane Hessel in 2012 (© Superbass / CC-BY-SA-3.0 via Wikimedia Commons)
Walkenried ist, um ein auf Leipzig gemünztes Wort einmal abzuwandeln, „die Welt in einer Nußschale“. Wir erleben im kleinen wie Hessel im großen, wie Ideale und seit Jahrzehnten bewährte Prinzipien und Strukturen verschwinden. Jedenfalls empfinde ich das ganz persönlich so:
Da wird unser schönes Mittelgebirge, der Harz, quasi nur noch in Euro und Cent bewertet und ist nur dann noch etwas wert, wenn es „Fun“ verschafft, „Events“ ermöglicht, auch wenn dies seinem Charakter völlig widerspricht, und dadurch vermeintlich neue Attraktivität für Kundengruppen geschaffen wird, die sich doch binnen kurzem – so sind sie nun einmal gestrickt – gelangweilt nach der nächsten Fun-Arena umschauen werden. Oder aber, wie wir es im Südharz erleben, es zählt nur dann, wenn man es Stein für Stein abbauen und verhökern kann, Fragmente und Ruinen hinterlassend. Demnächst wird für jeden Harzer Berg ein Mindestgewinnziel vorgegeben. Das hat der Harz nach so vielen Jahrmillionen seiner Existenz nicht verdient.
Da wird ehrenamtliches Bemühen einer kleinen Gruppe um den Erhalt der Landschaft von einem internationalen Multi mühelos mit einer mehrseitigen Kampfschrift an alle Haushalte gekontert: Geld regiert die Welt!
Da wird „Heimat“ nur noch dort garantiert, wo es gelingt, ausgeglichene Haushalte zu schaffen, werden so furchtbare Worte wie „Entleerungsgebiet“ erfunden (ja, wir leben per Definition in einem solchen). In kleinem Ort lebend, keimt langsam aber sicher das Gefühl auf, dass man eigentlich nur noch lästig ist. Warum wohnt man denn nicht in Hannover oder wenigstens in Göttingen? „Heimat“, das ist inzwischen zu einem kassentechnischen Begriff verkommen, sie ist nur noch dort, wo unter dem Strich mindestens eine „schwarze Null“ steht.
Da erhält man von tumber, aber gut bezahlter Ministerialbürokratie in Hannover stets dieselben Antworten auf nicht gestellte Fragen zur Zukunft des Südharzer Nahverkehrs, während die gestellten Fragen unbeantwortet bleiben – ob nun unter schwarz-gelb oder neu auch unter rot-grün (die Ministerialbeamten sind ja dieselben wie vorher).
Und so weiter. Solche Probleme meint Hessel natürlich nicht, ihm geht es um politische Grundausrichtungen und zum Beispiel auch um den Israel-Palästina-Konflikt, aber auch um die Macht der Großbanken, das allmähliche Verschwinden des Sozialstaats und anderes. Jedoch sind viele unserer „kleinen“ Probleme letztlich nur Ausfluss oder Ergebnis großer Strömungen. Wer internationale Finanzmärkte stützen muss, kann, etwas vereinfacht ausgedrückt, seinen in Not geratenen Kommunen eben nicht mehr helfen. Und wenn ein 93 Jahre alter Mann sich hinsetzt und eine fesselnde, viele Menschen bewegende Kampfschrift entwirft, weil er eben nicht willens ist, nur noch zuzuschauen, dann kann man das getrost auch als Vorbild für das Agieren vor Ort wählen.
Wir sollten uns daher weiter empören. Empören heißt einbringen, heißt etwas verändern zu wollen, heißt, einen Zustand nicht als gegeben hinzunehmen, sondern ihn zu ändern versuchen. Dass dies gewaltlos geschieht, versteht sich von selbst. Aber muss man sich denn wirklich alles gefallen lassen? Der alte Stephane Hessel sagt „Nein“, und das sollten wir auch tun. Ich jedenfalls bin mit anderer Stimmung aus dem Zug gestiegen als ich ihn vorher in Nordhausen bestiegen habe. Das verdanke ich jemandem, der erfolgreich aus dem Lager Dora gleich um die Ecke getürmt ist. Insoweit ist es nachgerade Südharzer Pflicht, die Worte Hessels zu beherzigen.
Empörung in diesem Sinne wird von der etablierten Politik als lästig empfunden. Dort ist man lieber weiter unter sich, allem Gerede vom „Ehrenamt“ zum Trotze. Ehrenamt bitte nur dann, wenn es zum politischen „Mainstream“ passt. Aber das muss man abschütteln.
Also: Weiter für den Erhalt des Walkenrieder Ortsbildes und der Walkenrieder Natur kämpfen. Weiter dafür einsetzen, dass Walkenried eine Heimat bleibt für uns und hoffentlich viele Jüngere. Weiter dafür kämpfen, dass am Walkenrieder Bahnhof noch ganz lange Züge halten. Weiter den Priorteich als Ausflugsziel pflegen. Und so weiter. Es gibt natürlich andere Themen und andere Formen der Empörung. Wenn sie konstruktiv sind, sind sie auch hochwillkommen. „Ohne mich ist das Schlimmste, was man sich und der Welt antun kann“ schreibt Hessel. Recht hat er.
Das kleine Heftchen steht ab sofort in der Bücherei zur Verfügung. Vor Risiken und Nebenwirkungen wird gewarnt.
Aber zum Lesen sei es wirklich empfohlen.
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