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Gipsausstellung

Das Jahr 1923 in Walkenried und Umgebung


Als historisches Hintergrundprogramm (und als Schlechtwetteralternative, die jedoch zum Glück nicht benötigt wurde) hat das Team der Ortsgeschichtlichen Sammlung Walkenried für den Markt der Vereine am vergangenen Samstag eine Präsentation zum Gründungsjahr des 90jährigen Jubilars – der Volksbank Braunlage – vorbereitet. Hierfür musste umfassend recherchiert werden, was sich im Jahr 1923 in Walkenried und Umgebung zugetragen hat – eine spannende Aufgabe mit interessanten Ergebnissen, die wir gerne auch in einem Artikel hier in den Walkenrieder Nachrichten präsentieren möchten.

Volksbank Braunlage

In diesem Gebäude am Hotel „Brauner Hirsch“ in Braunlage wurde im November 1923 die erste Filiale der Volksbank Braunlage eröffnet (Bildquelle: Volksbank Braunlage eG).

 

Wenn man entscheidende Jahreszahlen der jüngeren deutschen Geschichte nennen sollte, würden einem vermutlich zunächst die Jahre des Ersten Weltkriegs von 1914 bis 1918, die Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933, die Jahre des Zweiten Weltkriegs von 1939 bis 1945 und sicher auch noch der Mauerfall und die Wiedervereinigung in den Jahren 1989 und 1990 einfallen. An das Jahr 1923 wird dagegen spontan wohl kaum jemand denken – und das, obwohl sich gerade in diesem Jahr ganz entscheidende Ereignisse und Weichenstellungen für den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte ereigneten.

 

So war 1923 etwa das Jahr, in dem die Hyperinflation der 20er Jahre in Deutschland ihren absoluten Höhepunkt erreichte. Zahlreiche Geldscheine der Deutschen Reichsbank sowie Notgeldscheine der Kommunen unserer Region zeugen von dem enormen Preisverfall, der sich innerhalb nur weniger Monate in Deutschland ereignete. Kostete etwa der Versand einer Postkarte im Juli 1923 bereits 400 Reichsmark, so waren nur acht Wochen später bereits 50 Millionen Reichsmark zu entrichten.

3.000.000 Reichsmark

Geldschein mit einem Nennwert von zwei Millionen Reichsmark, ausgegeben am 9. August 1923 (Original aus der Ortsgeschichtlichen Sammlung Walkenried).

 

Einen entscheidenden Anteil an der Zuspitzug dieser Währungskrise hatte die im Januar 1923 erfolgte Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen wegen ausstehender Reparationsleistungen des Deutschen Reiches aus dem Ersten Weltkrieg. Nachdem die Berliner Regierung die Bevölkerung zu passivem Widerstand aufgerufen hatte, kam es zu massiven Streiks und Protesten aber auch zu Sabotageakten und Todesfällen. Die enormen Kosten des Widerstands versetzten der ohnehin schwächelnden Währung endgültig den Todesstoß. Im November 1923 wurde die Reichsmark schließlich durch die Rentenmark abgelöst. Der Jahresbericht des Harzvereins aus dem Jahr 1923 verdeutlicht, welche Auswirkungen diese Währungsreform hatte: Aus einem Kassenbestand von unvorstellbaren 2.145.029.992.096 Reichsmark wurde über Nacht ein neuer Kassenbestand von 2 Rentenmark und 15 Pfennigen.

Jahresabschluss 1923

Der Jahresabschluss des „Harzvereins“ aus dem Jahr 1923 zeigt die drastischen Auswirkungen der Währungsreform: Aus einem Kassenbestand von 2.145.029.992.096 Reichsmark wurde über Nacht ein neuer Kassenbestand von 2 Rentenmark und 15 Pfennigen (Bildquelle: Ortsgeschichtliche Sammlung Walkenried).

 

Die wirtschaftliche und soziale Aufruhr, die mit dieser Währungskrise einherging, führte auch zu politischen Verwerfungen (allein im Jahr 1923 standen der Reichsregierung mit Gustav Stresemann, Wilhelm Cuno und Wilhelm Marx gleich drei Kanzler vor) und verhalf einer neuen rechtsextremen Bewegung zum Aufstieg, die das Land einige Jahrzehnte später übernehmen und zugrunde richten sollte. Am 9. September 1923 erklärt der Weltkriegs-General Erich Ludendorff gemeinsam mit Adolf Hitler in München die Reichsregierung für abgesetzt. Der Putsch scheitert am Eingreifen der bayerischen Justiz, die Hitler verhaften lässt und ihn später zu einer – allerdings recht milden – Gefängnisstrafe verurteilt. Während dieser Haftzeit entstand Hitlers berüchtigte Hetzschirft „Mein Kampf“, die nach der Machtübernahme im Jahr 1933 in millionenfacher Auflage gedruckt wurde. Auch eine der Wurzeln dieses Übels ist somit im für die deutsche Geschichte im Rückblich erstaunlich bedeutenden Jahr 1923 zu sehen.

Dr. Heinrich Jasper

Dr. Heinrich Jasper (SPD) regierte 1923 und später noch einmal den Freistaat Braunschweig. Die Nazis brachten ihn ins KZ und 1944 in Bergen-Belsen um (Bildquelle: „Die Braunschweigische Landesgeschichte – Jahrtausendrückblick einer Region“).

 

Was aber tat sich 1923 in Walkenried und Umgebung? Walkenried war zu dieser Zeit dem Freistaat Braunschweig zugehörig, der wiederum äußerst erfolgreich von Dr. Heinrich Jasper (SPD) regiert wurde, nach dem im Klosterort bekanntlich auch eine Straße benannt ist. Dr. Jasper wurde in den 40er Jahren durch die Nazis verhaftet und 1944 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordet. Ein anderer Braunschweiger Politiker dieser 1920er Jahre – der Landtagsabgeordnete Otto Grotewohl – wurde später Ministerpräsident der DDR und spielte während des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 eine eher unrühmliche Rolle, als er gegen die Normenerhöhungen demonstrierende DDR-Bürger in einer Rundfunkansprache als „faschistische Provokateure“ geißelte und alle „ehrlichen Bürger“ dazu aufforderte, Demonstranten bei den Staatsorganen zu denunzieren.

Seifenpulver GENWA

Eine Werbeanzeige für das Seifenpulver GENWA – eines von vielen Produkten, die in der Walkenrieder Seifenfabrik Genzel hergestellt wurden (Bildquelle: Ortsgeschichtliche Sammlung Walkenried).

 

Wie die Beschreibungen von Walkenried, Wieda und Zorge aus dem sogenannten Grieben-Führer des Jahres 1924 zeigen, waren der Klosterort und seine Umgebung auch damals bereits bekannte und reizvolle Urlaubsziele. Walkenried selbst war 1923 übrigens noch kaum über das heutige Unterkloster hinausgewachsen – lediglich Harzstraße, Hopfenhellerstraße, Kirschwiese, Kupferbergstraße, Bahnhofstraße, Poststraße und Karl-Genzel-Straße waren bereits vorhanden.

Einer der größten Walkenrieder Arbeitgeber der 1920er Jahre war die Seifenfabrik Genzel, zu deren Wirken die Ortsgeschichtliche Sammlung Walkenried 2011 ja schon einmal eine Sonderausstellung veranstaltet hat. Viele Familien des Klosterortes hingen damals wirtschaftlich direkt oder indirekt von der Seifenproduktion ab. Neben der Seifenfabrik existierten 1923 auch noch die inzwischen ebenfalls verschwundene Walkenrieder Gipsfabrik von Fritz Rode sowie die Gipsfabrik Juliushütte von Julius Bergmann, die politisch ebenfalls Walkenried zuzurechnen war. Viele Arbeitsplätze boten auch die am Knotenpunkt Walkenried noch sehr präsente Reichsbahn sowie die damals noch existierende Kleinbahn von Walkenried über Wieda nach Braunlage.

 

Für das Jahr 1923 verzeichnet die Walkenrieder Ortschronik insbesondere zwei bedeutede Ereignisse: Die Erbauung der „Villa“ (aus Gipsleichtstein) auf der Kutzhütte, die heute als Verwaltungsgebäude dient, sowie die Einweihung des „Kriegerdenkmals“ für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs im heutigen Bürgerpark, das heute Mahnmahl für alle Opfer von Krieg und Gewalt ist. Nicht zuletzt wurde natürlich auch die Braunlager Volksbank im Jahr 1923 – am 24. November – gegründet, unterhielt jedoch erst seit 1968 eine Zweigstelle in Walkenried. Und obwohl ihre Gründung in wirtschaftlich und pekuniär mehr als nur unsicheren Zeiten erfolgte, hat sich die Volksbank Braunlage eG ungeachtet eines weiteren Weltkrieges, der deutsch-deutschen Teilung sowie mehrerer Wirtschafts- und Bankenkrisen erfolgreich weiterntwickelt und finanziert heute in der Region nicht nur Schützenfeste und Malwettbewerbe, sondern auch den Bodfeldlauf in Königshütte und zahlreiche touristische Info-Tafeln für Wir Walkenrieder e.V.

Überhaupt ist es ja irgendwie auch ein schönes Gefühl, wenn zumindest eine Institution den Wandel der Zeit übersteht. Vieles aus dem Jahr 1923 – die Seifenfabrik Genzel, die Gipsfabriken Bergmann und Rode, die Südharzer Kleinbahn, der alte Walkenrieder Bahnhof – gehört ja inzwischen der Vergangenheit an – die Braunlager Volksbank jedoch ist geblieben. Geblieben ist bei der Vorbereitung der Präsentation zum 22. Juli übrigens auch ein letztes fotografisches Rätsel: Warum nur stehen auf diesem Foto des Walkenrieder Bahnhofs, welches im Jahr 1923 entstand, zwei Frauen (in der Vergrößerung erkennbar an der Bekleidung) auf dem Vordach des Gebäudes…?

Hauptbahnhof Walkenried

Auffällig sind die beiden Damen, die offenbar auf dem Vordach des Bahnhofs stehen (Bildquelle: Ortsgeschichtliche Sammlung Walkenried).

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Über Christian Reinboth

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Diskussionen

4 Gedanken zu “Das Jahr 1923 in Walkenried und Umgebung

  1. Ihr Bericht über Walkenried ist sehr schön. Meine Frage: wir hatten in den ,40er bzw 50er Jahren einen Onkel namens Ernst Latussek mit seiner Ehefrau Annemarie in einem alten, grossen, eigentümlichen Gutshaus dort wohnen. Meine Schwester und ich interessieren uns sehr, was aus diesem Haus geworden ist. Vielleicht können die uns weiterhelfen. Fotos des Hauses kann ich ihnen gerne zusenden. Liebe Grüße aus Giessen

    Verfasst von Ingrid Krausch | 27. Dezember 2022, 18:22
    • Kurze Info dazu von meinem Onkel, den ich wegen der Anfrage kontaktiert hatte: Familie Latussek war – soweit er sich erinnert – nach dem Krieg Inhaber oder Pächter der Domäne Wiedigshof. Im Wohnhaus des Gutes gab es damals (um 1960) auch ein eine Art Lokal für Jugendliche ähnlich der Pieschel–Bar. Evtuell lohnt sich also eine Nachfrage in Wiedigshof.

      Verfasst von Christian Reinboth | 9. Januar 2023, 18:36
      • Supi, vielen Dank. Dann bin ich mit meiner Spurensuche ein Stück weiter. Ich plane, irgendwann einmal hinzufahren. Nochmals gaaanz vielen Dank

        Verfasst von Ingrid Krausch | 9. Januar 2023, 18:48
    • Nachtrag von meinem anderen Onkel: Als die Domäne Walkenried mit Wiedigshof nach dem Krieg aufgeteilt wurde, erwarb Ernst Latusseck den Teil Wiedigshof. Er betrieb dort Landwirtschaft, war verheiratet, hatte 2(?) Töchter und richtete vermutlich für diese in dem Haus eine Kneipe ein, der aber kein langer Bestand beschieden war. Ernst Latussek ist der Erinnerung nach relativ bald nach dem Erwerb gestorben. Die Liegenschaft ging dann an die Familie Elbeshausen über.

      Verfasst von Christian Reinboth | 17. Januar 2023, 20:01

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