Wir leben in keinem Museum, und die Landschaft um uns herum ist nur so lange geschützt, wie es der Gipsindustrie gefällt. Vermeintlich sichere Naturschutzgebiete werden über Nacht aufgehoben, um den Sprengkommandos, Bohrern und Baggern dieses nimmersatten Industriezweiges Platz zu machen. Was zurück bleibt, gleicht für Jahre und Jahrzehnte einer Mondlandschaft. Die Natur holt sich freilich einiges wieder zurück, aber eines kann sie nicht: Riesige Löcher wieder zumachen.
Der Gipskarst um uns herum erweist sich so als Fluch und Segen, und jeder mag sich aussuchen, was in seiner persönlichen Meinung überwiegt. Zum Segen gereichen uns eine äußerst abwechslungsreiche Landschaft und vielfältige interessante Karsterscheinungen, von denen wir einige entlang der heutigen Tour aufsuchen wollen. Wir bewegen uns hierbei fast nur auf dem Karstwanderweg und verlassen diesen erst am Bahnhof in Ellrich, können uns also am „K“ orientieren und sind alles in allem gut zwei Stunden oder etwa 8 Kilometer lang unterwegs.
Am Bahnhof startend, überqueren wir die Gleise und biegen sogleich links in den kleinen Fußweg am „Röseteich“ – der ja eigentlich „Fauler Sumpf“ heißt, wobei „Faul“ von „Pfuhl“ herrührt – ein, um an seinem Ende schon den Karstwanderweg zu erreichen. Der Damm links von uns trug einst das Anschlussgleis der „Walkenrieder Gipsfabrik“, es ist ebenso wie die Fabrik lange verschwunden. An diese erinnern noch der alte, von der „Kutzhütte“ übernommene und bedeutend erweiterte Steinbruch und die „Villa“, das aus gebrannten Gipsblöcken erbaute Wohnhaus des Firmengründers Albrecht Meier. An der Straße „Am Röseberg“ notieren wir kopfschüttelnd, dass der Gipsindustrie hier in geradezu menschenverachtender Weise gestattet worden ist, einen Steinbruch bis unmittelbar hinter die Gärten der dortigen Anlieger zu betreiben. Aber auch dies gehört zu den Kernbotschaften des Karstwanderweges, wenngleich diese während der geführten Wanderungen nicht vermittelt werden.
Am Bahnübergang biegen wir scharf nach rechts ab und kommen an den Rand des Röseberges. Dieser das Walkenrieder Ortsbild prägende Berg wird von allen Seiten angebaggert und besprengt, und auch während des schönen Ganges unterhalb seiner Steilkante entlang, immer begleitet vom Mühlgraben, müssen wir daran denken, dass schon bald hinter dieser Kante der nächste Steinbruch eröffnet werden wird. Welchen Einfluss dies auf die Stabilität des schon jetzt etwas brüchigen Hanges haben wird, muss offen bleiben. Prinzipiell wird uns dieses Stück Karst allerdings bleiben, wenn auch der Fürst Potemkin hierfür Pate stehen muss. Gleich zu Beginn treffen wir auf eine Karsterscheinung, die Höhle „Hubertuskeller“, einst von den Walkenriedern für alle möglichen Zwecke wie das Verstecken von alten Waffen genutzt, in Tat und Wahrheit eine durch nahes Wasser entstandene – und noch arbeitende – Höhle und damit ein „Klassiker“ des Gipskarstes.
An der Ecke des Klärwerkes – hier wird der neue Steinbruch seine größte „Pufferzone“ haben – geht es leicht nach rechts und beim Krieghoffschen Anwesen scharf nach links, am Hof vorbei und auf die Straße nach Wiedigshof. Dieser folgen wir nur wenige Schritte und biegen gleich wieder nach links ein, wo zur Bedienung eines weiteren Steinbruchs der „Kutzhütte“ eine relativ neue Brücke über die Wieda existiert, mit deren Hilfe wir die breite Wiedaaue durchqueren können. Auf der Brücke erblicken wir in der Wieda einiges an Wasser, welches von der nahen Einmündung des Mühlgrabens herrührt, denn ansonsten ist der kleine Harzfluss hier schon im Einflussbereich des Karstes und gibt mehr und mehr Wasser an den Untergrund ab. Es ist also noch da, fließt aber für uns unsichtbar in den eigenen Schottern der Wieda. Schon bei Wiedigshof – und von hier bis weit hinter Gudersleben – ist die Wieda um diese Jahreszeit (Oktober) praktisch trocken.
Am anderen Hang, dem „Kahlen Kopf“, passieren wir den immer größer werdenden Steinbruch, gelangen auf die einst zur Juliushütte führende Straße und erblicken rechts von uns die „Roten Äcker“, die schon den bekannten Maler Eugen Bracht im 19. Jahrhundert zu einem Gemälde reizten, dessen Kopie im Ausstellungsraum des Vereins für Heimatgeschichte zu bewundern ist. Wunderschön ist gerade im Herbst die Waldkante des „Himmelreichs“. In dieses brechen wir nun auf, indem wir an seinem Fuß nach rechts abbiegen und uns auf den anfangs recht steilen Anstieg zu den Itelklippen hinauf begeben. Viele Worte müssen wir hier nicht verlieren (siehe Wandertipp Nr. 1), sondern können andächtig dieses wahrhaft einzigartige Stück Landschaft genießen. Wenn nicht im nahen Steinbruch der Bohrer tackert, ist es hier sehr ruhig, ab und an quakt vom Itel her ein Wasservogel oder ein Zug rauscht tief unter uns in den Tunnel hinein. Oder er kommt wieder heraus.
Das wusste übrigens in den Anfangsjahren der Bahn schon ein hiesiger Landwirt, der sich von seinen Mitreisenden nicht ins Bockshorn jagen ließ. Als der Zug nämlich in die dunkle Tunnelröhre eintauchte, riefen diese: „Buur, jetzt giehts in die Helln“ (auf hochdeutsch: Herr Landwirt, nun geht es in die Hölle), worauf dieser konterte „Des is mich worscht, ich haah retour“ (oder: Das ist mir egal, ich habe eine Rückfahrkarte). Das nur mal nebenbei. Nach Erreichen des Ellrichblicks führt uns der Karstwanderweg nun bergab aus dem Himmelreich heraus. Hier bitte Vorsicht, der Weg ist oft feucht und etwas rutschig. Am Fuße kommen wir zum Pontelteich, dessen Wasser weitgehend aus dem Itel stammt und das Himmelreich unterirdisch durchquert hat. Von der ehemaligen Siedlung Juliushütte ist nichts mehr erkennbar, wohl aber vom einstigen Steinbruchbetrieb und dem in diesem Gelände angesiedelten KZ „Erich“.
Die Stollen und Sprengkammern gehören zum Gipsbetrieb, die Fundamente der Baracken zum Lager. Der Steinbruchbetrieb ruht hier nun schon über 70 Jahre, und dennoch sind die Wunden in der Landschaft noch nicht verheilt. Die anderen Wunden, die vom KZ herrührenden, ebenso wenig. Wir passieren zwei Gedenksteine und können uns anhand mehrerer Tafeln über das Leid der hier Inhaftierten informieren. Der letzte dieser Steine steht bereits vor dem Bahnhofsgelände von Ellrich. Hier verlassen wir den Karstwanderweg und gehen über die alte Ladestraße bis zum Bahnübergang und von dort ein kurzes Stück zurück zum Bahnhof Ellrich, wo wir einen der stündlich nach Walkenried zurück fahrenden Züge nehmen, nicht ohne zuvor am Automaten eine Fahrkarte gelöst zu haben. Trotz des Tunnels reicht eine einfache Fahrt!
Was bleibt, sind sicher vielfältige, auch zwiespältige Eindrücke. Herrliche Wälder, wunderbare Ausblicke und interessante Karsterscheinungen einerseits, tiefe Wunden und Lärm durch Steinbrüche andererseits. Die Landschaft wird zugunsten industrieller Nutzung an vielen Stellen weiter zurückgedrängt. Aber auch hierüber sollte man informiert sein.
Walkenrieds Umgebung ist reich an beeindruckenden Bauten und Ingenieurleistungen gerade aus dem Mittelalter. Die Klosterteiche und ihre überlegte Anordnung, die Verbindung der Teiche untereinander belegen das Können der Zisterzienser oder vielmehr der von ihnen beschäftigten Techniker unter den „Laienbrüdern“. Eine andere, sehr bemerkenswerte Leistung in der unmittelbaren Nachbarschaft stellt der ehemalige Klettenberger Mühlgraben dar, an den der Verein für Heimatgeschichte am 16.10. im Rahmen eines von Dr. Karl Schmidt und Fritz Reinboth gestalteten Vortrags erinnerte.
Viel mehr als Erinnern kann man auch nicht, denn der Klettenberger Mühlgraben, konzipiert und angelegt im Mittelalter vielleicht unter tätiger Mithilfe der Walkenrieder, wurde ein Opfer der Zonengrenze oder vielmehr der damit einhergehenden Absperrmaßnahmen der DDR. Das der Abzweigung dienende Wehr lag unmittelbar an der Grenze bei Neuhof, es wurde nach 1961 aufgegeben und somit auch der Mühlgraben seiner Funktion beraubt. Heute ist er weitgehend verschüttet, und auch die Vielzahl der von ihm einst angetriebenen Mühlen besteht nicht mehr. Dabei handelte es sich um ein höchst bemerkenswertes Bauwerk.
Die Burg Klettenberg und der deutlich später entstandene Ort verfügten nämlich, da im Gipskarst gelegen, über keine geeigneten Quellen oder Bäche, mit deren Hilfe Mühlen hätten betrieben werden können. Also kam man auf die Idee, Wasser aus der von Bad Sachsa über Neuhof kommenden Uffe abzuzweigen und über Klettenberg und Holbach der dort vorbei fließenden Ichte zuzuführen. Verwirrend hieran ist, dass die Uffe an dem Punkt, wo das Wehr zur Abzweigung eingebaut wurde, bereits „Sachsengraben“ heißt, während der künstlich angelegte Mühlgraben in Klettenberg selbst wiederum „Uffe“ genannt wurde. Technisch beeindruckend ist die Tatsache, dass zwischen Branderode und Klettenberg eine Wasserscheide zu überwinden ist. Mit viel Mühe und unter Ausnutzung natürlicher Senken, die es im Gipskarst immer wieder gibt, wurde der Graben über die Wasserscheide hinweg nach Klettenberg geführt und versorgte dort und in Holbach fortan über zehn Mühlen. Mit Hilfe einer Wasserkunst wurde dem Graben auch Wasser entnommen, um es auf einen Berg zu pumpen und so den Ort, die Domäne und das Rittergut mit Brauchwasser zu versorgen. Wie vom Mühlgraben, so existiert auch von dieser „Wasserkunst“ heute fast nichts mehr. Die Mühlen wurden später mit Turbinen versehen, um – in geringen Mengen – Strom zu erzeugen; auch das Klettenberger Gipswerk der Firma Börgardts nutzte eine der Mühlen für ihre Mahlvorgänge. Dem dahinter liegenden Steinbruch viel die alte Druckwasserleitung von der „Wasserkunst“ zum Hochbehälter zum Opfer. Heute ist der Mühlgraben, einst Lebensader von Klettenberg, nur noch fragmentarisch vorhanden und zu einer Kloake verkommen. Was sehr bedauerlich ist, denn, wie gesagt, es handelt sich um einer sehr beachtliche vermessungs- und bautechnische Leistung der Vergangenheit.
Fritz Reinboth steuerte eine Anekdote zum Thema Mühlgraben bei, denn bei der Neuanlage des Wehrs im 17. Jahrhundert gab es Streit zwischen Neuhof (zum Herzogtum Braunschweig gehörend) und dem inzwischen preußischen Klettenberg, der bis hinauf zu Herzog Carl I. und König Friedrich Wilhelm I. drang. Allerdings ist wohl davon auszugehen, dass die beiden Potentaten sich nicht persönlich mit der Angelegenheit befassten, die dann auch friedlich beigelegt wurde. Die exzessive Entnahme des Wassers aus dem Sachsengraben (der Uffe) führte übrigens dazu, dass die unterhalb des Wehrs liegenden Orte Branderode, Obersachswerfen und Gudersleben ohne Mühlen auskommen mussten. Eine lebhafte Debatte über die Energieversorgung einst und jetzt beendete den gut besuchten Vortragsabend. Er gibt vielleicht Anregung, sich die Klettenberger Mühlgrabengeschichte einmal vor Ort anzusehen.