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Zweiter Weltkrieg

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Neue Sonderausstellung im Nordhäuser Stadtarchiv „Orte des Erinnerns. Nordhausen April 1945.“

(von Dr. Wolfram G. Theilemann, Stadtarchiv Nordhausen)

Nicht schon wieder !!!‘ hören wir die einen stöhnen, ‚Niemals vergessen!!!‘ monieren die anderen. Wieder andere langeweilt es nur, doch in der Tat: Gedenken ist keine kleine Sache, denn Demenz ist teuer, Erinnern kann wehtun, verlorenes Gedächtnis kostet neue Opfer. Die richtige Form dafür zu finden, das muss jede Gesellschaft, jeder Staat, jede Gemeinde in jeder Generation neu. Auch altbewährte Kulturrezepte bleiben davon nicht unberührt.

So auch in Nordhausen Anno 2024. Denn vor 79 Jahren war Nordhausen am 3. und 4. April 1945 Ziel von zwei schweren Luftangriffen durch die britische Luftwaffe (Royal Air Force). Ihre Angriffe zerstörten die Stadt und kosteten tausenden Menschen das Leben, unter ihnen vielen Häftlingen des KZ Mittelbau-Dora und Zwangsarbeiter, die in der Stadt eingesetzt und in der „Boelcke“-Kaserne untergebracht waren. Am 11. April wurde die Stadt von der US-Armee kampflos besetzt. Diese Tage bedeuteten für Nordhausen das Ende des 1939 vom Deutschen Reich begonnenen Zweiten Weltkrieges – und trotz aller Nöte Befreiung für sehr viele. Ungeachtet der Zerstörungen – wie in Hamburg, Leipzig, Pforzheim, Kassel, Halberstadt, Plauen ….  lässt sich auch in Nordhausen an vielen Stellen das historische Erbe heute noch sehen oder wird sichtbar, wenn es gewürdigt wird. Vom Vergessen bedroht sind – über die Ruinen hinaus – mehr noch die mehr oder weniger unschuldigen Opfer jener Politik, die diesen Krieg unbedingt wollte, ob nun als KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter, Luftkriegsopfer, Heimatvertriebene, gefallene Soldaten oder einfach Flüchtlinge.

Die Sonderausstellung des Stadtarchivs verdeutlicht an 15 Standortbeispielen mit historischen Abbildungen, digitalen Rekonstruktionen, Originaldokumenten und aktuellen Vergleichsaufnahmen den Eingriff ins Stadtbild und damit verbundene menschliche Schicksale. Dabei bietet die aufwendig inszenierte Ausstellung Archivalien aus dem Stadtarchiv und US-amerikanischen Institutionen, maßgeblich mitgestaltet durch Nico Schluter, Sohn eines niederländischen „Fremdarbeiters“ in Nordhausen 1945. Die Ausstellung in der Flohburg flankiert zugleich die für 2024/2025 erwartete Ergebnispräsentation des seit 2019 laufenden städtischen Forschungsprojektes zu den Luftangriffen auf Nordhausen, das der Stadtrat im Dezember 2018 beschloss. Sie schreibt die 2022 gestartet Webpräsentation zum Thema fort.

Die Vernissage findet am Donnerstag, 4.04.202, 17.00 Uhr, in der Flohburg, statt. Weitere Vorträge folgen jeden Monat bis in den Juli 2024.

Leserbrief zur Flüchtlingsdebatte: Wie sich die Themen gleichen

(von Ruth Monicke)

Widerwärtig nennt Bundespräsident Gauck die Angriffe auf Flüchtlingsheime. Und deren gab es im ersten Halbjahr 2015 schon 150, Tendenz steigend. Flüchtlinge waren noch nie beliebt. Und jeder der eine andere Hautfarbe hat, ist so und so suspekt – und dann die Sprache. Das sind ja Ausländer – nee, die woll‘n wir nicht.

Da haben wir ja direkt noch Glück gehabt. Wir, die Flüchtlinge von damals. Und dass wir sogar noch Deutsch sprachen, na sowas. Hätten’s die Einheimischen nicht gehört, sie hätten‘s nicht für möglich gehalten. Dass wir aber zerlumpt und ärmlich daher kamen und hier bei ihnen im Westen Unterschlupf suchten, das empfand man dann doch als arge Zumutung. Das ließ man uns Flüchtlinge deutlich spüren. Und ich bin mir nicht sicher, hätte man zur damaligen Zeit nicht so großen Respekt vor der Obrigkeit gehabt, vielleicht wäre auch so manche Baracke abgefackelt worden. Wir Flüchtlingskinder wussten sehr wohl wie dreckiges Gesindel aussieht – eben wie wir. Und so erstaunt es mich heute überhaupt nicht, wie mit den jetzigen Flüchtlingen umgegangen wird.

Wie sich die politische Seele im Jahr 2015 in Deutschland offenbart, von der menschlichen will ich gar nicht sprechen, das verkündet die tägliche Meldung. Man fühlt sich hier im sicheren Westen in seiner satten Trägheit gestört. Und je tiefer auf dem stillen Lande, je dichter ist der engstirnig gewebte Kokon.

Diese Tatsache ist jedoch nicht unbekannt und so werfe ich der Politik schwere Fehler vor. Statt die Menschen im Vorfeld einzubinden, sie vorzubereiten und mit ihnen gemeinsam zu beraten, wie das mit dem Ansturm der Flüchtlinge gelöst werden kann, stellt man sie vor vollendete Tatsachen. Es fehlt an geschulten Menschen die aufklärend wirken – aber die Politik darf sich nicht hinter zu wenig Personal verstecken. Es werden doch auch Stellen beim Wolfs-Monitoring geschaffen, Wolfsberater, die aufklärend auf die Begegnung mit dem Wolf vorbereiten. Das sind nur Tiere, hier geht es aber um Menschen. Gut, der Vergleich hinkt, aber wir sind in Notlagen doch einfallsreich – holt die größten Schreihälse, gebt ihnen Aufgaben, lasst sie Einblick in das Elend nehmen.

Denn geht es so weiter, muss Deutschland aufpassen, dass sich in unserem Lande der Rassismus nicht salonfähig macht – breitgemacht hat er sich schon.

Ruth Monicke

Flüchtlinge

Bundesarchiv: Deutsche Flüchtlinge laden 1945 ihr Gepäck an einem Berliner Bahnhof aus (Lizenz: CC BY-SA 3.0 de).

Wo waren die Helden geblieben? – Starke Frauen waren die Rettung!

(von Ruth Monicke)

Vor 70 Jahren – eine bedrückende Weihnachtszeit liegt hinter uns, die Front rückt näher, immer näher. Die Nachrichten sind gespickt mit Durchhalteparolen an das Volk. Die, die uns über Volksempfänger und Presse derartiges glauben machen wollen, haben sich schon teilweise abgesetzt. Oder haben sich in Bunkern verbarrikadiert. Alle anderen an den Schalthebeln der Macht, werden sich trotz besserem Wissen hüten, dem geschundenen Volk die Wahrheit zu sagen. Die einen, weil sie das Volk ruhig halten wollen. Die anderen, weil sie wegen Wehrzersetzung um ihr Leben fürchten. Wie es aber um die Menschen wirklich bestellt ist – das interessiert in den oberen Etagen keinen. Das Volk hatte still zu sein und die Frauen die Lasten der Zerstörung zu tragen.

Wir, die damaligen Kriegskinder in den ländlichen Gebieten, oder in der abgeschiedenen Bergwelt, lebten noch relativ unbeschwert. Im Gegensatz zu den Stadtkindern, die unter der ständiger Furcht vorm nächsten Fliegerangriff litten. Dass es zu Festtagen immer seltener ein Geschenk gab, das war schon Gewohnheit. Die Anzahl der Kriegsopfer im Felde oder in der Heimat stieg. Dass jede Familie die ständig wachsende Zahl der Toten betrauern musste, schürte die Verzweiflung und die Angst vorm morgigen Tag. Welche Hiobsbotschaft hält der Postbote morgen in seiner Hand?

 

Und dann kam die furchtverbreitende Schreckensnachricht aus Ostpreußen, der 18. Januar 1945, der Durchbruch der russischen Armee. Stalin hat für seine Winteroffensive mit dem Kälteeinbruch als Verbündetem gerechnet und den Zeitpunkt in Ruhe abgewartet. Dann, mit Artillerie und Stalinorgeln zerschlug der russische Ansturm jeglichen Widerstand. Mit frischen Verbänden und gut ausgerüstet, standen auf der gesamten 600 km langen Ostfrontlinie 200 russische Divisionen der geschwächten deutschen Wehrmacht mit 70 Divisionen gegenüber, bereit zur Einnahme der deutschen Ostgebiete.

Dann ging es Schlag auf Schlag, das Einkesseln, das Vorsichhertreiben der Flüchtenden aus der Danziger Bucht. Panzer überrollten die Flüchtlingstrecks bei eisiger Kälte. Dazu der Beschuss der Tiefflieger, es gab kein Ausweichen im hohen Schnee. Und was für ein Drama auf dem Frischen Haff, Pferdefuhrwerke versinken durch die berstende Eisdecke im eisigen Wasser. Dann der Untergang der Flüchtlingsschiffe auf der Ostsee, und alles bei unter minus 20 Grad Kälte. Die Opfer, hauptsächlich alte Leute, Frauen und Kinder. Die Massenvergewaltigung der Frauen. Sie liefen um ihr Leben, Hab und Gut zurücklassend. An totaler Erschöpfung starben die Menschen, und tötete das Vieh. Die Toten am Wegesrand begrub der Schnee.

 

Es gibt „Helden“-Gedenktage, mit viel Pathos begangen. Für ordensgeschmückte Männer! Wurde aber je den geschundenen Frauen gedacht, die klaglos ihre Kinder, die Säuglinge, die alten Großeltern mit letzter Kraft aus dem Kriegs-Chaos herausbrachten? Die keine Möglichkeit hatten die Erfrorenen zu begraben? Oder seien es die Frauen die mit ihren Familien aus Schlesien kamen. Die bis zur Vertreibung, aber auch danach der Not und der Willkür ausgesetzt waren. Oder die, die die Bombenangriffe und das Inferno in den Städten erlebten – und letztendlich die Trümmer des Krieges wegräumten.

Warum hat es niemals einen Ehren-Gedenktag für diese Kriegs-Frauen gegeben? Wir schreiben mittlerweile das Jahr 2015 – 70 Jahre Kriegsende, um Danke zu sagen ist es zu spät, ist zu viel Zeit vergangen. Diese Frauen machten nie Aufhebens um ihr Tun, es waren keine Helden, unbeachtet, aber großartige, starke Frauen, die ihre Familien heldenhaft durch das Elend in Sicherheit brachten.

Nur ein Gepäckschein – Gedanken über ein Fundstück aus Ellrich

Von Andreas Friese aus Ellrich erhielten wir ein Fundstück aus dem Bahnhof Ellrich, welches dort wohl bei den Aufräumarbeiten aus Anlass des Umbaus zum Feuerwehrdepot gefunden wurde. Es handelt sich um zwei zusammenhängende Gepäckbegleitscheine aus dem Jahr 1943. Bei ihrer näheren Betrachtung lassen sich einige Fakten nachvollziehen – es ist aber auch das dabei vor den Augen des Betrachters entstehende Szenario, was aus einem einfachen Gepäckschein eine kleine Geschichte aus unserer Heimat werden lässt.

Die beiden Gepäckbegleitscheine mit den Nummern 323 und 324 wurden am 7. Mai 1943 am Bahnhof Walkenried verwendet, um eine Anzahl von Sendungen – denn um klassisches Reisegepäck hat es sich vermutlich, wie weiter unten ausgeführt wird, nicht gehandelt – von Walkenried nach Ellrich zu transferieren. Auch der Zug, mit dem dieses geschah, ist notiert: Es war der Zug 283. Das Gewicht aller Stücke zusammen betrug 82 kg. Ob es fünf oder zehn Stücke waren, ist nicht ganz klar, denn auf dem zweiten Schein sind Gewicht und Preis durchgestrichen. Aber es scheint, dass beide Scheine gemeinsam der Aufgabe von insgesamt 10 Sendungen gedient haben. Vielleicht durfte auf einen Schein nur eine bestimmte Anzahl von Sendungen aufgegeben werden, so dass ein zweiter Schein zu Hilfe genommen werden musste. Folgt man dieser Theorie, dann lag das durchschnittliche Gewicht jedes Stücks bei ca. 8 kg.

Hauptbahnhof Walkenried

Dieses um 1950 entstandene Gemälde aus dem von Karl Helbing erstellten Rosenblath-Zyklus (zu besichtigen in der Walkenrieder Gipsausstellung) zeigt den alten Walkenrieder Hauptbahnhof, der mittlerweile nicht mehr als Bahnhofsgebäude genutzt wird.

 

Auf der Rückseite hat der Bahnhof Ellrich per Stempel und Wiederholung der Zugnummer – Ordnung muss sein – den Eingang der Sendungen bestätigt. Versetzen wir uns anhand der beiden Scheine zurück in das Jahr 1943, genauer zum 7. Mai 1943. Wir wollen versuchen, das Geheimnis dieses Versandes ein wenig zu lüften und ein paar Begleitumstände aus jenen Tagen mit betrachten.

Zunächst einmal ist es für den heutigen Betrachter gewöhnungsbedürftig, dass man 10 Sendungen in den Nachbarort per Bahn auf den Weg brachte. Selbst vor über 60 Jahren hätte es dafür sicher einen anderen, einfacheren Weg gegeben, doch war der Transport per Lkw im Kriegsjahr 1943 mit Sicherheit schon stark eingeschränkt und auf kriegswichtige Dinge begrenzt. Außerdem war es damals völlig selbstverständlich, die Bahn für jede Art von Transport in Anspruch zu nehmen.

Ungewöhnlich auch, dass die Sendungen als „Gepäck“ deklariert wurden. Normalerweise konnte man Gepäck nur aufgeben, wenn man selbst reiste, also eine Fahrkarte hatte. Das dürfte im vorliegenden Fall aber kaum so gewesen sein, denn dann hätte jemand eigens zu diesem Zweck von Walkenried nach Ellrich fahren müssen und natürlich auch wieder zurück. Es ist daher anzunehmen, dass die 10 Sendungen unbegleitet auf den Weg gebracht wurden. Vielleicht war es kriegsbedingt möglich, so zu verfahren, vielleicht waren andere Formulare, zum Beispiel für den Expressversand, ausgegangen oder dieser Dienst war schon eingestellt.

Nun noch zum Zug selbst. Der „283“ lässt sich anhand des Fahrplans für das Jahr 1943 nachweisen. Dieser liegt uns als Nachdruck für Thüringen vor und enthält auch die damalige Kursbuchstrecke 200 Ottbergen – Northeim – Herzberg – Nordhausen. Die Nummer 200 hatte unsere Strecke erst kurz zuvor erhalten, 1939 firmierte sie noch als „176“ und 1941 dann schon als „200“. Immerhin hatte man mitten im Krieg noch Zeit für eine Kursbuchreform. Die Tabelle 200 trägt im Kopf den Vermerk „Alle Züge 2., 3. Klasse“, auch unser 283 machte hiervon keine Ausnahme. Er war einer von 12 regelmäßig über unsere Strecke fahrenden Reisezügen, die übrigen 7 trugen den Vermerk „Verkehrt nur auf besondere Anordnung“, und wir können heute nicht mehr nachvollziehen, ob sie im Mai 1943 auch tatsächlich eingesetzt wurden. 2 von den regulären 12 Zügen waren übrigens „SFR“-Züge, also Schnellzüge für Fronturlauber, die nächtens durch den Südharz rollten zwischen Leipzig, Halle und Aachen und zurück. Das einzige Eilzugpaar fuhr vermutlich nicht, der Rest waren schlichte Personenzüge mit Halt auf allen Stationen.

Fahrplan von 1943

Das Fahrplanbild zu unserer Geschichte: Wir sehen den nächtlich durchrollenden „SFR“, den „Schnellzug für Fronturlauber“, und wir erkennen die Einschränkungen an den Rauten und dem „X“. Die so markierten Züge fuhren nur auf besondere Anordnung. Mittendrin unser Zug 283 Northeim – Nordhausen.

 

Unser „283“ begann seinen Laufweg täglich um 13.56 Uhr in Northeim. Dort traf um 13.21 Uhr der D 73 von Frankfurt ein und um 13.42 Uhr der Personenzug 765 von Göttingen. Von Norden gab es einen Anschluss um 13.46 Uhr aus Kreiensen. In Herzberg hielt unser Zug von 14.37 bis 14.44 Uhr und nahm einen Anschluss um 14.33 Uhr aus Seesen – Osterode auf. In Scharzfeld wurde von 14.51 bis 14.54 gehalten, um 15.00 Uhr konnte man ab dort nach St. Andreasberg West fahren. Walkenried wurde von 15.20 bis 15.22 Uhr bedient, Ellrich um 15.28, und das Ziel Nordhausen erreichte der „283“ um 15.51 Uhr. Dort gab es um 16.19 Uhr einen Anschluss nach Erfurt.

Die relativ langen Aufenthalte deuten darauf hin, dass mit diesen Zug viel Gepäck und – soweit noch zugelassen – Expressgut befördert wurde, für dessen Be- und Entladung man einige Zeit brauchte. Unsere 10 Sendungen gingen in Walkenried also um 15.22 Uhr auf die Reise und kamen 5 Minuten später nach Passieren des Tunnels in Ellrich an.

So weit die Fakten. Doch es reizt, ein wenig weiter zu forschen – oder zu spekulieren.

Was wurde in Walkenried in größerer Zahl und mit relativ großem Gewicht aufgegeben, um im Nachbarort wieder entladen zu werden? In Walkenried wurde zu jener Zeit Gips produziert, den es jedoch in Ellrich auch gab. Vor allem aber wurde in Walkenried Seife hergestellt, und nicht nur  solche zum Waschen, sondern auch Kernseife, Schmierseife und Waschpulver bei „Genzel“. In Ellrich wiederum könnte es hierfür Abnehmer gegeben haben: Es bestand einmal das HJ-Fliegerlager und zum zweiten waren einige Hotels bzw. Ferienheime wie das „Bellevue“ zu Landschulheimen für Kinder aus bombengefährdeten Großstädten umfunktioniert. Dort überall musste Wäsche gewaschen werden. Vielleicht hat ein Händler in Ellrich die Ware bei Genzel geordert, vielleicht wurde sie auch direkt dort bestellt. Originäre „Genzel“-Produkte waren es so oder so nicht, denn damals gab es nur noch Einheitsseife und Einheitspulver, gelenkt von der „Reichsstelle für industrielle Fettproduktion“, kurz RIF genannt. Erst 1949 konnte Genzel wieder zu den eigenen Mischungen zurückkehren – da aber war das große Absatzgebiet im Osten schon verloren gegangen.

Einweich-, Spül- und Waschmittel

Wir gehen also einmal davon aus, dass an jenem 7. Mai 1943 10 Fässer oder Eimer mit Reinigungsmitteln der Firma Genzel von Walkenried nach Ellrich mit dem Zug 283 versandt wurden.

Versetzen wir uns nochmals zurück. Im Mai 1943 dürfte der Glaube an den „Endsieg“ schon merklich gelitten haben. Die 6. Armee hatte schon im Januar 1943 in Stalingrad kapituliert, die ersten deutschen Städte, so Lübeck, waren bereits im Bombenhagel versunken, wobei das Schlimmste für Northeim und vor allem Nordhausen freilich noch bevorstand. Der große Angriff auf Hamburg erfolgte im Juli 1943, und in diese Zeit fiel auch die Landung der Alliierten in Sizilien und die Entmachtung des „Duce“ Mussolini in Italien. Die Schlacht im „Kursker Bogen“ hatte gerade begonnen.  Noch im Mai, um die Zeit der Aufgabe der Seifenfässer herum, kapitulierte das deutsche Afrikakorps, der Nimbus Rommels war dahin. Zwei Jahre später, fast auf den Tag genau, erfolgte die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht. 1943 dürften sowohl in Walkenried wie in Ellrich schon einige Kriegstote zu beklagen gewesen sein. Am Bahnhof taten dienstverpflichtete Frauen Dienst, weil die Eisenbahner selbst ins Feld eingezogen waren, und bei Genzel wird es sich ähnlich verhalten haben. Vielleicht wurden auch schon Kriegsgefangene eingesetzt.

Die Todesmaschinerie der SS nahm erst ein Jahr später am Kohnstein und im Lager „Erich“ in Ellrich ihre furchtbare Arbeit auf. Andernorts war sie schon seit langem dabei, planmäßig Leben zu vernichten, aber im Südharz dürfte man hiervon erst 1944 eine gewisse Ahnung erlangt haben…

V1-Produktion

Produktionsstrecke für V1-Waffensysteme im KZ Mittelbau-Dora (Quelle: Bundesarchiv).

 

Über unsere Bahnlinie fuhren nur wenige Personenzüge, aber umso mehr Güterzüge – bis zu 100 am Tag könnten es gewesen sein.

Am frühen Nachmittag jenes 7. Mai machte sich also jemand auf den Weg von Genzel zum Bahnhof Walkenried, sicher mit einem Handwagen, vielleicht auch per Pferdefuhrwerk, um im alten Empfangsgebäude, dem mit den Zinnen, welches heute als privates Wohnhaus genutzt wird, die Sendungen aufzugeben. Welche Gedanken mögen ihn bewegt haben? Vielleicht hatte er einen Sohn oder mehrere im Felde. Vielleicht glaubte er noch an den Endsieg, denn bis Walkenried sprachen sich weltpolitische Nachrichten zensurbedingt eher langsam herum. Am Bahnhof erfolgte die Gepäckaufgabe an einem großen Fenster gleich rechter Hand in der geräumigen Empfangshalle. Vor ihrem Betreten fiel der Blick des Aufgebenden vielleicht noch auf das Gebäude und die Gleise der „Südharzbahn“ nach Braunlage und Tanne, wo sich aber um diese Uhrzeit wenig tat, vielleicht  noch auf das Nebengebäude des Staatsbahnhofs, das so genannte Übernachtungsgebäude, an dem mit großen Lettern angeschrieben stand „Räder müssen rollen für den Sieg – unnütze Reisen verlängern den Krieg“… Solche Botschaften standen damals an beinahe jeder Bahnhofswand, mitunter variiert zu „Erst siegen – dann reisen“. In Walkenried konnte man die Parolen noch bis in die achtziger Jahre hinein sehen, wenn der Regen die Wand etwas angefeuchtet hatte…

Er wollte ja auch nicht reisen, vielleicht siegen, auf jeden Fall aber erst einmal die Fässer loswerden. Dies scheint nicht so einfach gewesen zu sein, denn immerhin wurden hierfür zwei Scheine beschrieben, es wurde gewogen, eingetragen und kassiert. Vielleicht war der Gegenüber bei der Reichsbahn noch ein älterer Eisenbahner, vielleicht aber auch schon eine dienstverpflichtete Frau. Vielleicht wurde ein kurzes Gespräch geführt, wie geht’s (in Walkenried aber eher „wie änn?“), was gibt’s Neues, Politisches wohl kaum, das war zu riskant.

Irgendjemand muss die Fässer dann auf einen Bahnhofshandwagen gewuchtet und auf den Bahnsteig gefahren haben. Der Zug nach Nordhausen fuhr von Bahnsteig 2 ab. Die Sendungen wurden in den Packwagen geladen, denn damals jeder Personenzug hatte. Lok – vermutlich eine preußische P8, eine 38.10, möglicherweise aber kriegsbedingt auch eine Güterzuglok der Baureihe 56 – und Zug werden nicht den besten Eindruck gemacht haben, vieles wurde nur mehr notdürftig instandgehalten und geflickt. Aus dem Fenster blicken Lokführer und Heizer – letzterer möglicherweise ein Kriegsgefangener, die gern zu solchen Diensten herangezogen wurden. Angst vor Tieffliegern musste man 1943 in Walkenried und Ellrich noch nicht haben. Ein Pfiff, und ab ging es in Richtung Ellrich, vorbei an „Posten 268“, in dessen Wohnhaus damals und auch noch nach Kriegsende der Bahnwärter Schumburg wohnte, durch den Tunnel hindurch, am Pontel vorbei. Im Mai zeigt sich das Himmelreich von seiner schönsten Seite, frisches Grün über weißen Gipsklippen, das wird auch 1943 nicht anders gewesen sein – ob das Zugpersonal oder die Fahrgäste hierfür einen Blick übrig hatten?

In Ellrich wurde das Gut wieder entladen, der Schein wurde gestempelt und aufbewahrt – wie sich zeigt, bis zum Jahr 2008 – und irgend jemand wird die Ware dann auf ähnliche Weise wie in Walkenried vom Bahnhof zum Bestimmungsort gebracht haben.

Alltag 1943. Ein Jahr später wurde der Südharzrand im Zuge des Projekts Mittelbau mit Gleisen und Baracken überzogen, musste der zivile Zugverkehr noch weiter zu Gunsten des militärischen eingeschränkt werden. Zwei Jahre später sanken der Bahnhof Northeim und die Innenstadt von Nordhausen in Schutt und Asche, und 44 Jahre lang sollte niemand mehr auf die Idee kommen, Seifenfässer von Walkenried nach Ellrich zu schicken.

Mittelbau Dora

Nur zwei Jahre später: Alliierte Befreier posieren vor dem Eingang zu einem der Stollen des Mittelbaus Dora. Über 20.000 Häftlinge wurden hier bis 1945 auf grausame Art und Weise zu Tode gebracht (Bildquelle: US Air Force).

 

2013: 70 Jahre später ist eigentlich nur noch das Himmelreich unverändert. Walkenried hat einen neuen, kleineren Bahnhof, Ellrich hat noch seinen alten, der aber nun von der Feuerwehr genutzt wird. Statt zweier Gleise zieht sich nur mehr eines durch den Tunnel. Personell besetzt sind beide Bahnhöfe noch, Ellrich betrieblich auf den Stellwerken, Walkenried sogar noch mit Verkauf von Fahrkarten. Aber Gepäck aufgeben kann man schon lange nicht mehr. Statt „Zug 283“ und seiner Zeitgenossen rollen heute täglich 35 Triebwagen zwischen beiden Orten hin und her, ab und an sogar auch noch ein Güterzug. „Genzel“ gibt es schon lange nicht mehr, zu groß war der Verlust der Absatzgebiete östlich des eisernen Vorhangs. Die Kleinbahnen von Walkenried nach Braunlage und von Ellrich nach Zorge sind lange verschwunden. Immerhin fahren ab Walkenried nun Omnibusse nach Braunlage und von Ellrich – wie schon 1943 – solche nach Sülzhayn.

Und: Wir leben im Frieden, seit 68 Jahren. Möge es so bleiben. Und mögen uns Funde wie dieser immer wieder daran erinnern, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist.